Alzey (as) – Die niedergelassene Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Heike-Helena Elspaß wird ab dem ersten Quartal 2026 keine offene Sprechstunde für neue Patienten mehr anbieten.
Über zwei Jahrzehnte lang bot Elspaß dieses niedrigschwellige Angebot vier- bis fünfmal pro Woche an – in der Hoffnung, dass andere psychiatrische Praxen dem Beispiel folgen würden. Doch der erhoffte „Nachahmereffekt“ blieb aus. Stattdessen stieg die Zahl der Hilfesuchenden stetig, zunehmend auch aus benachbarten Bundesländern.
Kapazitäten erschöpft
Die Praxis ist inzwischen vollständig ausgelastet. Eine Erstaufnahme dauert oft bis zu eine Stunde, an manchen Tagen warten mehr als 40 neue Patienten vor der Tür. Selbst zusätzliche Termine an Wochenenden konnten den Andrang nicht auffangen.
Lange Wartezeiten, steigender Druck
Frei werdende Arztsitze für Psychiater werden häufig mit Fachärzten für Neurologie besetzt. Das führt dazu, dass Patienten nach einem stationären Aufenthalt oft keine adäquate Weiterbehandlung finden – insbesondere, wenn Hausärzte bestimmte Medikamente nicht verordnen dürfen.
Elspaß spricht von einem strukturellen Versagen: „Wenn Menschen monatelang auf Hilfe warten, verschlimmert sich ihr Zustand – das kostet später den Sozialstaat erheblich mehr Geld und bedeutet unnötiges Leid.“ Besonders kritisch sei die Lage seit dem Renteneintritt vieler Therapeutinnen und Therapeuten der Babyboomer-Generation. „Die junge Generation hat eine andere Lebensphilosophie. Viele wollen gar keine volle Praxis mehr führen“, so Elspaß.
Wachsende Aggressivität und persönliche Folgen
Auch für die Ärztin selbst bleibt die Situation belastend. „Vor vier Wochen wurde ich tätlich angegriffen – als Ärztin, die helfen will. Das zeigt, wie sich der Ton verändert hat“, berichtet sie. Der zunehmende Druck auf Hilfesuchende schlägt immer häufiger in Aggression gegenüber medizinischem Personal um.
Alzeyer Zeitung vor Ort – ernüchternde Eindrücke
Die Alzeyer Zeitung war vor Ort, um sich selbst ein Bild zu machen. Bereits vor der Praxis wartete eine Menschenschlange – ein Teil der Patienten hatte laut Elspaß bereits Termine erhalten. Im Inneren herrschte ein überfülltes Wartezimmer. An der Anmeldung wurde gerade ein Neupatient aufgenommen, während im Behandlungsraum bereits eine junge Frau auf schnelle Hilfe hoffte. Das Bild: angespannte Ruhe, erschöpfte Gesichter, eine Ärztin, die um jeden Platz ringt.
Hintergrund zur Praxis
Heike-Helena Elspaß ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie mit Kassenzulassung. Seit 1999 führt sie ihre Praxis in Alzey und bietet ein breites Spektrum psychiatrischer und psychotherapeutischer Leistungen an – darunter Diagnostik, medikamentöse Einstellungen, Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychoonkologie.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Behandlung von ADHS/ADS, der Erstellung psychiatrischer Gutachten sowie der Zusammenarbeit mit Institutionen wie Reha-Trägern, Kliniken, Hausärzten, Caritas, Weißem Ring oder Pro Familia.
Fachärztemangel verschärft sich trotz Bevölkerungswachstum
Nach Angaben der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz waren zum 31. Dezember 2024 562 Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie im Land berufstätig – davon 211 im ambulanten Bereich, 179 niedergelassen und 33 stationär tätig.
Im Jahr 2015 lag diese Zahl bei 503. Das entspricht einem Zuwachs von rund 11,7 Prozent innerhalb von zehn Jahren. Im selben Zeitraum wuchs die Bevölkerung von rund 3,99 auf etwa 4,13 Millionen Einwohner – ein Plus von knapp 3,5 Prozent.
Auf den ersten Blick scheint das ein ausgewogenes Verhältnis. Doch die Altersstruktur zeigt, dass viele Fachärzte bald wegfallen werden: Nur drei Psychiater in Rheinland-Pfalz sind jünger als 35 Jahre, während 157 zwischen 60 und 65 Jahren und 84 bereits über 65 sind. In den kommenden Jahren wird somit fast die Hälfte der derzeit Berufstätigen in den Ruhestand gehen – bei kaum vorhandenem Nachwuchs.
Zwar wurden 2024 insgesamt 26 neue Facharztanerkennungen vergeben, doch das reicht bei Weitem nicht aus, um den altersbedingten Abgang auszugleichen.
Bundesländer im Vergleich: Rheinland-Pfalz hinkt hinterher
Im bundesweiten Vergleich liegt Rheinland-Pfalz deutlich zurück. Während hier im Schnitt rund 13 bis 14 Psychiater pro 100.000 Einwohner tätig sind, erreichen Länder wie Bayern oder Baden-Württemberg Werte zwischen 20 und 22, Nordrhein-Westfalen sogar bis zu 25 Fachärzte pro 100.000 Einwohner.
Das bedeutet: Rheinland-Pfalz verfügt über rund ein Drittel weniger Fachärzte pro Kopf als wirtschaftsstarke Nachbarländer – und das bei vergleichbarem Bedarf. Besonders betroffen sind ländliche Regionen wie Rheinhessen, der Hunsrück oder die Südwestpfalz, wo teils mehrere Landkreise von nur wenigen Fachärzten abgedeckt werden.
Mit dem Ende der offenen Sprechstunde in Alzey fällt ein niedrigschwelliger Zugang für viele Hilfesuchende weg. Elspaß spricht aus, was viele Kolleginnen und Kollegen längst denken: „Ich habe lange versucht, das System von innen heraus zu verändern. Aber irgendwann geht es einfach nicht mehr.“
Die Zahlen der Landesärztekammer und der Vergleich mit anderen Bundesländern zeigen, dass Rheinland-Pfalz strukturell ins Hintertreffen geraten ist. Steigende Nachfrage, stagnierende Facharztzahlen und eine überalterte Ärzteschaft bilden eine gefährliche Kombination. Ohne gezielte Nachwuchsförderung und politische Reformen droht mittelfristig ein massiver Versorgungsengpass – mit Folgen, die bereits jetzt vor den Türen der Alzeyer Praxis sichtbar werden.
Zahlen zur Psychiatrischen Versorgung in Rheinland-Pfalz (Stand: 2024)
Bevölkerung:
4,13 Millionen Einwohner (2015: 3,99 Mio.)
→ Zuwachs: +3,5 %
Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie:
Gesamt: 562
– ambulant tätig: 211
– niedergelassen: 179
– stationär: 33
(2015: 503 Fachärzte → +11,7 %)
Altersstruktur der Fachärzte:
– bis 34 Jahre: 3
– 35–39 Jahre: 38
– 40–49 Jahre: 101
– 50–59 Jahre: 179
– 60–65 Jahre: 157
– über 65 Jahre: 84
→ Rund 43 % der Fachärzte befinden sich im Ruhestandsalter oder kurz davor.
Neue Facharztanerkennungen Psychiatrie/Psychotherapie:
2022: 18
2023: 26
2024: 26
Weiterbildungsbefugte Fachärzte:
77 im Land Rheinland-Pfalz
Versorgungsdichte (Psychiater pro 100.000 Einwohner):
– Rheinland-Pfalz: ca. 13–14
– Bayern: ca. 20–21
– Baden-Württemberg: ca. 22
– Nordrhein-Westfalen: ca. 25
 
            






