Alzey (as) – Zum Jahrestag der Reichspogromnacht kamen zahlreiche Bürger an der ehemaligen Synagoge in der Augustinerstraße in Alzey zusammen, um der Opfer des nationalsozialistischen Terrors zu gedenken. Die Veranstaltung, zu der auch Vertreter der Stadt, der Verbandsgemeinden und des Landkreises kamen, erinnerte eindrücklich daran, wie wichtig das Wachhalten der Erinnerung für eine gerechte und friedliche Zukunft ist.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“
Bürgermeister Steffen Jung betonte in seiner Rede die grundlegende Bedeutung von Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Er forderte alle Anwesenden auf, diesen Grundsatz aktiv zu achten und zu schützen. „Eine friedliche Zukunft wird nur möglich sein, wenn wir die Erinnerungen an die Schrecken des nationalsozialistischen Deutschlands wachhalten und sie an unsere nachfolgenden Generationen weitergeben. Wir müssen gemeinsam für Freiheit und Demokratie in unserem Land einstehen,“ so Jung.
Das Schicksal der „St. Louis“ und seine Lehren
Kemal Gülcehre, Vorsitzender des Beirats für Migration und Integration des Landkreises Alzey-Worms, erinnerte an die bewegende Geschichte des Schiffs „St. Louis“, das 1939 mit 937 deutschen Jüdinnen und Juden an Bord von Hamburg nach Kuba aufbrach. Weder Kuba noch die USA oder Kanada gewährten den Passagieren Zuflucht, sodass das Schiff nach Europa zurückkehren musste, wo viele der Passagiere später im Holocaust starben. Gülcehre hob hervor, dass das Schicksal der „St. Louis“ wichtige politische Debatten prägte und zur Genfer Flüchtlingskonvention sowie zu Artikel 16 des Grundgesetzes führte: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Er betonte: „Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass kein Mensch, der vor Verfolgung und Gewalt flieht, das Gefühl hat, dass ihm die Tür verschlossen bleibt.“
Anstieg antisemitischer Straftaten: Eine alarmierende Entwicklung
Andreas Greif wies auf den besorgniserregenden Anstieg antisemitischer Straftaten in Deutschland hin. Im zweiten Quartal 2024 wurden über 1.400 antisemitische Delikte verzeichnet, und Vandalismus an jüdischen Einrichtungen hat bereits im ersten Halbjahr das Niveau des gesamten Vorjahres überschritten. „Diese Taten sind weit entfernt von sachlicher Israelkritik. Sie greifen jüdisches Leben als solches an,“ mahnte der Wöllsteiner.
Lebendige Erinnerung durch Schicksale aus Alzey
Renate Rosenau von der AG „Juden im Alzeyer Land“ erzählte bewegende Geschichten jüdischer Menschen aus Alzey, deren Namen auf der Gedenktafel in der Augustinerstraße verewigt sind. So erinnerte sie an den 84-jährigen Abraham Beckhardt, der am 9. November 1938 Opfer brutaler Gewalt wurde. In der Antoniterstraße 60 drangen Nationalsozialisten in das Haus seiner Familie ein und ließen einen schweren Schrank auf den betagten Mann fallen, Abraham starb an den Verletzungen. Am folgenden Tag, dem 10. November – während in Alzey der Martinimarkt stattfand – wurden zwölf jüdische Männer in sogenannte „Schutzhaft“ genommen und ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert.
„Lasst doch mal gut sein“ – niemals!
Pfarrer Thomas Lotz von der evangelischen Kirchengemeinde Alzey erinnerte daran, wie gefährlich Gleichgültigkeit gegenüber Unrecht sein kann. „Lasst doch mal gut sein“ dürfe niemals die Antwort auf diese Geschichte sein, so Lotz: „Mord verjährt nicht.“ Lotz zitierte die eindringlichen Worte von Martin Niemöller, die die Konsequenzen des Schweigens in Zeiten des Unrechts aufzeigen:
„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschaftler.
Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Jude.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“
Niemöller hätte am 1. Juli 1937 in der Nikolaikirche sprechen sollen, doch genau an diesem Tag wurde er verhaftet und in ein Konzentrationslager gebracht. „Es braucht einen Moment, diesen Zusammenhang zu begreifen,“ erklärte Lotz und rief dazu auf, gegen Unrecht aufzustehen und das Gedenken an die Opfer wachzuhalten.
Zum Abschluss bedankte sich Bürgermeister Jung bei allen Anwesenden und lud ins Bali Kino ein, dort wird der Film „Aufbruch ins Ungewisssen gezeigt“ – wie wäre es, wenn wir aus Deutschland fliehen müssten?